Warum es keine „Wahretabelle“ gibt

Es gibt die Internetseite WAHRE TABELLE http://www.wahretabelle.at/, die versucht, Fehlentscheidungen aus dem Ergebnis herauszurechnen und dann auch die Meisterschaftstabelle neu zu erstellen. Nach dieser Korrektur wäre etwa in der abgelaufenen Saison 2009/10 nicht Red Bull Salzburg sondern die Wiener Austria Österreichischer Fußballmeister geworden.

Diese Ergebniskorrektur ist aber eine Milchmädchenrechnung ohne Wert, wie übrigens auch alle Versuche mit Videobeweis so etwas wie eine gerechte Entscheidung herbeizuführen.

Der Grund ist folgender: es gibt nur eine Realität, nämlich die, die wir wahrnehmen. Der Verlauf eines Spiels nach jedem auch noch so unbedeutenden Ereignis am und um das Spielfeld, nach jeder Spielunterbrechung und nachfolgender Schiedsrichterentscheidung ist einmalig. Der Verlauf ist weder wiederholbar noch kann aus einer bestimmten Entscheidung ein bestimmter weiterer Verlauf angenommen werden. Alles, was passiert, geschieht unter der Voraussetzung genau jener Vergangenheit, die wir wahrnehmen und niemand ist in der Lage, zu sagen, was passiert wäre, wenn die Vergangenheit (oder eben eine Schiedsrichterentscheidung) anderswie verlaufen wäre.

Eine besonders auffällige Fehlentscheidung war ein als gültig gegebenes Abseitstor der Wiener Austria gegen Sturm Graz, welches der Austria 3 Punkte einbrachte. Es ist aber (nach meiner Ansicht) nicht zulässig, so wie die WAHRE TABELLE zu behaupten, Sturm hat eben kein Tor geschossen, das Tor der Austria wäre abzuerkennen und daher wäre Sturm und Austria je ein Punkt zuzusprechen.

Das Tor fiel in der 47 Minute. Es war also genug Zeit für beide Mannschaften das Ergebnis noch zu korrigieren. Aber: die Spielweise der beiden Mannschaften ist nach der Fehlentscheidung eine ganz andere, wenn eine Mannschaft mit einem Tor Vorsprung führt und im Verlauf des Spiels dann mehr darauf bedacht ist, kein Gegentor zu bekommen als selbst noch eines zu schießen. Man kann genau so gut behaupten, dass im Falle einer korrekten Entscheidung (dass nämlich das Tor nicht gegeben worden wäre) Sturm sehr wohl in der Lage gewesen wäre, das Spiel auch noch zu gewinnen. Kurzfassung: wir können über den Verlauf des Spiels bei anders gelagerter Entscheidung gar nichts aussagen.

Aber ganz abgesehen von so markanten Ereignissen wie einer Fehlentscheidung. Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie ein Spiel verlaufen wäre, wenn zum Beispiel ein Spieler, der sich in der 73. Minute gerade die Schuhbänder neu schnüren musste, das nicht hätte tun müssen, weil er sich die Schuhe bereits in der Kabine ordentlich gebunden hätte? (Und für dieses Detail kann man jedes erdenkliche Ereignis einsetzen, welches den Ablauf der späteren Ereignisse irgenwie verändert. Immerhin geht es ja bei den entscheidenden Torszenen um Hundertstel Sekunden in denen der Ball zu hoch, zu tief oder eben gerade richtig getroffen wird. Und in diesen unwägbaren Details hat praktisch alles andere auch einen Einfluss. Man kann daher ruhig behaupten, dass die kleine Verzögerung der neu geschnürten Schuhbänder dazu geführt hat, dass die Mannschaft dieses Spielers 2:1 gewonnen hat. Natürlich war sie die bessere, wie man dann in den Interviews hören wird. Aber wer weiß, ob nicht diese kurze Verzögerung dazu geführt hat, dass eben dieser Spieler etwas verspätet ins Spiel eingreifen konnte und dann aber an einer so unerwarteten Stelle auftaucht, dass er zufällig einen Abpraller so weiterleitet, dass die folgenden Pässe zum entscheidenden Torerfolg seiner Mannschaft führen. Nicht einmal erwähnt wird dieser Spieler, eher wird man seine Schlamperei kritisieren, weil nur der Torschütze und jener, der die Vorlage gegeben hat, finden Erwähnung in den Statistiken. Weiter zurück reicht unsere Erinnerung nicht, können wir die Folge der mehr oder weniger zufälligen Stationen des Balls nicht mehr weiter verfolgen.

Ich behaupte daher, dass wir nicht in der Lage sind und auch nie sein werden, eine lückenlose Kette zusammenhängender Spielzüge und deren Ursachen aufzudecken. Und das ist gut für den Fußball, dass sich nichts aber auch gar nichts am Spielfeld wiederholt. Aber eben diese Unbestimmtheit macht die Faszination des Fußballs aus. Ich behaupte, dass ein Sport umso faszinierender ist, je geringer die Voraussagbarkeit des Ergebnisses ist. Nicht umsonst kommen bei Spielen gegen schwache Gegner wenig und bei Spielen gegen starke Gegner viele Zuschauer. Die Zuschauer kommen daher nicht, um ihre Mannschaft siegen zu sehen, denn das würden sie ja bei einem schwachen Gegner, sondern sie kommen in großer Zahl, wenn das Ergebnis unsicher ist.

Noch mehr: ich glaube, dass meine Anwesenheit am Spielfeld das Ergebnis des Spiels beeinflusst. Nicht, dass ich wüsste, in welcher Richtung. Im Allgemeinen neigen wir aber dazu anzunehmen, dass die Zahl der Protagonisten einer Mannschaft möglichst groß und laut sein muss, damit sie einen positiven Einfluss auf die Leistung ihrer Mannschaft hat. Und der Heimvorteil beim Fußball, der bei gut besuchten Heimspielen besonders groß zu sein scheint, dürfte diese Annahme bestätigen.

Ich behaupte daher, dass die Austria das Spiel gegen Sturm ohne das fälschlicherweise gegebene Tor verloren hätte. Aber das ist genau so unsicher, wie die Aussage der Wahren Tabelle, dass das Spiel als Unentschieden zu werten sei.

Nehmen wir weiter an, es gäbe einen Videobeweis und es hätte die Möglichkeit bestanden, die Entscheidung zu korrigieren. Dann vergleichen wir die reale Situation mit den zahlreichen Protesten nach der Entscheidung und dem nachfolgenden Ankick und einen theoretische Situation mit einer kurzen Besprechung der Schiedsrichter und dem nachfolgenden Abstoß. Wer kann schon voraussagen, wie das Spiel in dem zweiten Fall weitergelaufen wäre? Die Austria mit einem „Jetz-erst-recht“-Gefühl erzielt danach mit noch mehr Angriff zwei Tore und gewinnt? Oder läuft in einen Konter von Sturm und verliert? Was immer man sich vorstellen mag, da eine Torsituation oft eine Angelegenheit einer unüberschaubaren Folge von Zufälligkeiten ist, kann hier niemand eine Voraussage treffen.

Die Frage nach dem „was wäre wenn“ ist nicht nur im Fußball nicht angebracht. Einfach, weil es nur eine Wirklichkeit gibt, die, in der wir leben.

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