Pickerlreflex

Es scheint ein Reflex der Fußballfans zu sein, ihre Umwelt mit Pickerln versehen zu wollen, damit die Welt zu ihrem Weltbild passt.

Pickerl 1.

Ein in die Jahre gekommenes Badezimmer musste runderneuert werden. Die Farbwahl war nicht schwer. Die eigens angefertigten Rapid-Pickerln wurden genau auf die Fliesengröße dimensioniert. Sollte jemand aus dem Kreis der Leser auch einen Umbau planen, kann er gerne unsere Rechnungen vergleichen. Der Handwerkerbonus wurde zwar eingereicht, aber es dürfte um ein paar Tage zu spät gewesen sein, denn es gibt – wie die Nachrichten gemeldet haben – kein Fördergeld mehr. Während unser Fokus die eigene Wohnung ist, fassen andere Rapid-Fans den „Wohnungsbegriff“ etwas weiter.

Pickerl 2.

Heute fand das Block-West-Fest statt, das Motto „40 Jahre Block-West“ 1977-2017. Am 10. Mai 1977 wurde das Gerhard-Hanappi-Stadion eröffnet und mit diesem Fest wird dieses Jubiläum würdig begangen. Die Kassa hat bei allen Verkaufsständen geklingelt, die Fangruppen werden das Geld für die aufwändigen Choreografien gut brauchen können. Kaum einer der Gäste ist an den Verkaufsständen vorbeigegangen, ohne einen Schal, ein Leiberl oder zumindest eine Kino-Karte für die Vorstellung am nächsten Freitag im Gartenbau-Kino zu kaufen. Und schon bald nach Beginn des Fests wurde vermeldet, dass das Gartenbaukino am kommenden Freitag „ausverkauft“ sein wird. Eine tolle Leistung! Am Block-West-Fest gab es auch Gäste, denen sonst kein Eintritt gewährt wird. Im Bild eine prächtige Bulldogge: Am Block-West-Fest wurde auch klar, wo in der Stadt diese Unmengen an Pickerln mit Heilsbotschaften herkommen. Die Päckchen gibt es in verschiedenen Zusammensetzungen. Hier ist meine „Ration“, ein Geschenk von Mario: Wie hier, am Tisch ausgebreitet, sind die Pickerln ja noch harmlos, aber auf der Toiletten-Anlage im Block zeigen sie schon eher, was sie können. Bei manchen dieser Pickerln muss man Insider sein, um sie zu deuten. Hier zum Beispiel das „DIFFIDATI“-Pickerl, was soviel heißt wie „Ausgesperrte mit uns“. Als Nicht-Block-West-Steher kann ich diese Phänomene nur staunend beobachten und ich frage mich, wie das wohl früher war. Warum gab es das damals, 1977 nicht? Der Grund dürfte sein, dass die Gesellschaft früher schon bei weit weniger unangepasstem Verhalten entsprechend reagiert hat. In einem Artikel auf zeitlicks.de erfährt man, dass in Deutschland die Prügelstrafe in Klassen erst 1973 per Gesetz abgeschafft worden ist („Erziehung mit harten Strafen“). Damals hatten Übertretungen der gesellschaftlich nicht tolerierten Handlungen, sagen wir „Schwätzen im Unterricht“, unmittelbare Konsequenzen und jemand der diese Grenzen überschritten hat, hat sich im Kampf mit den „Sozialisierenden“ durchgesetzt, vielleicht ähnlich einem Indianer, der sich seinen Namen erst durch eine Bewährungsprobe selbst erarbeiten muss. (Insofern ist das Ultras-Symbol, der Indianerkopf, etwas sehr Typisches für Sozialisierung, die Interaktion einer älteren mit einer jüngeren Generation.) Heute kann man über die Dos und Donts von 1977 nur lachen. Diese früheren Grenzen wurden immer weiter verschoben, sodass es die Jugendlichen heute immer schwerer haben, die bereits extreme Toleranz des Umfeldes auszureizen und dann auch noch Grenzen auszuloten. Tattoos, Piercings und eben auch Pickerln oder Pyrotechnik sind Ausdrucksformen von Grenzüberschreitungen und hoffentlich gibt es die eine oder andere Bezugsperson, die (noch) auf die Nachteile aller dieser Erscheinungen hinweist, denn wenn auch diese Reaktion verschwindet… Viele, speziell die Jüngeren werden es ja noch erleben, wie es weitergehen wird. Eine interessante „Grenzverschiebung“ (mehr Toleranz, die zu noch mehr Problemen führt) hat auf der „Pyro-Front“ stattgefunden. Früher gab es für Pyro Strafen, jede Fackel wurde geahndet, daher gab es eine Art natürlich Obergrenze, die sich aus Mechanismen innerhalb der Fangruppe ergibt. Nun hat Rapid aber in Gesprächen mit der zuständigen Magistratsabteilung erreicht, dass in einer genehmigten Pyro-Zone frei gezündelt werden kann, mit dem Ergebnis, dass der Qualm in den letzten Monaten ein vorher nicht gekanntes Ausmaß erreicht hat. Um alle diese Phänomene zu verstehen, muss man wahrscheinlich noch „einmal Zwanzig sein“; ansonsten wäre eine Soziologie- und Psychologie-Ausbildung nützlich.

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